PAGURI UND ARCHITECTONICIDAE
Holger Neuwirth


PAGURI UND ARCHITECTONICIDAE

Da ich lange im falschen Glauben befangen war, daß Müßiggang verwerflich und aller Laster Anfang sei, habe ich nach und nach die Gewohnheit angenommen, bei jeder Gelegenheit um mich einen Schutzmantel aus sinnvollen Tätigkeiten auszubreiten.

So ergab es sich, daß ich während meiner Urlaube an der Adria, um das Untergehen der Sonne - wenn die Meeresoberfläche ganz glatt und ruhig wird und die Tagesgeräusche vergehen - zu genießen, mit der Angelrute meinen Platz an der felsigen Küste aufsuchte. Dazu mußte ich bei Niedrigwasser in der nahen Bucht den erforderlichen Köder sammeln, womit auch der Nachmittag sein Alibi bekam.

Garnelen, die einen sehr guten Köder für die Angel abgeben, sind aber sehr flink und erfordern, neben Netz und Kübel, zu große Aufmerksamkeit. Am bequemsten ist das Einsammeln der zahlreichen Schneckengehäuse, die im seichten Uferwasser an den Steinen befestigt erscheinen und bei Annäherung scheinbar zufällig in die Tiefe kollern. Bei genauerer Beobachtung verraten ein Fühlerpaar, haarige Beinchen und Scheren den Einsiedlerkrebs.

Irgendwann in seiner EntwIcklungsgeschIchte muß er die Sicherheit und Bequemlichkeit einer Behausung dem unsteten Wanderleben vorgezogen haben. Seine Sicherheit hat er damit zwar vergrößert, aber seine Möglichkeiten sind verkümmert, sein Freiraum ist eingeschränkt. Sein Rückwärtiges ist ungegliedert und weichhäutig geworden. Die Laufbeinpaare sind am Hinterteil zu Ankerhaken, mit denen er sich in seiner Behausung festklammert, rückgebildet. Er wählt sich eines der zahlreichen leeren, unterschiedlich geformten Schneckenhäuser* (Abb.1/2) aus, in das er sich verkriecht und in dem er mit seinen Scheren (je nach Art** ist die linke oder die rechte Schere stärker entwickelt) auf Beute lauert. 
Abb.1

*) z.B.: Monodonta turbinata oder Trottola (1), Monodonta articulata (2), Clanculus corallinus (3) von den Altschnecken; von den Mittelschnecken die Architectonicidae oder Perspektivschnecken (4), die Mondschnecken mit Lunatica catena (5), Lunatica nitida (6), Natica millepunctadea oder Tausendpunkt-Nabelschnecke (7); die Nadelschnecken mit Cerithium vulgatum (8), Cerithium rupestre (9), Bittium reticulatum oder Mäusedreck (10) und die Linksnadel oder Triphora perversa (11).
Von den Neuschnecken die Herkuleskeule oder Murex brandaris (12), den Hochschwanz oder Murex trunculus (13), das gemeine Spindelhorn (14), die Netzreusenschnecke (15), die echte Gitterschnecke oder Cancellaria cancellata (16) und viele andere Abb.1/2).
Abb.2

**) z.B.: der Augenfleck-Einsiedler oder Pagurus maculatus (17) ist ziegelrot bis rotbraun mit annähernd gleich großen Scheren; Pagurus arrosor oder der große Einsiedler (18) ist gelb bis gelborange mit größerer linker, roter Schere; der Anemoneneinsiedler oder Pagurus prideauxi (19) ist braunrot mit großer rechter Schere und der gelbe Einsiedler oder Anapagurus laevis (20) ist blaßgelb bis orange, rechts ist die Schere größer und fein gekörnt (Abb.2).

ISTRIEN

Die Halbinsel von Istrien - im Norden Jugoslawiens - befindet sich am nordwestlichen Ausläufer des Dinarischen Gebirgsblocks, der das mediterrane Küstenland im Westen vom kontinentalen Tiefland ( Save- und Donaubecken ) Im Osten trennt. Er besteht aus Kalken der Jura- und Kreidezeit. Immergrüne Wälder und an der Küste auch Macchien bilden die Vegetation (Seestrandkiefer, Zypresse, Steineiche, Wacholder u.v.a.), die aber durch Raubbau gebietsweise verdrängt wurde und in der Folge durch eine fortschreitende Verkarstung ihrer natürlichen Grundlagen (Wasser und Humus) beraubt wurde. Die immergrünen Wälder sind zuerst für die Schiffe Roms, dann für die Paläste und Schiffe Venedigs abgeholzt worden; die anschließende Beweidung durch Schafe und Ziegen hat die Verkarstung noch beschleunigt (30).

Wasserarmut und ein karger Boden sind die Folgen; daher auch die Bezeichnung "Karst" (steiniger Boden), die sich von der gleichnamigen Landschaft In der Umgebung von Triest ableitet.

Der spärliche Humus wird mittels Steinmauern gegen die "Bora" (ein böiger und sehr stürmischer Fallwind) verteidigt; die Niederschläge der kalten Jahreszeit werden in Zisternen für die trockene und heiße Sommerzeit gespeichert (25).

GESCHICHTE

Die unwegsamen Höhengebiete des Dinarischen Gebirgsblocks waren im Lauf der Geschichte immer wieder kulturelle und zivilisatorische Rückzugsgebiete, die man trotz der mühevollen und ärmlichen Lebensbedingungen aufsuchte um sich die geistige und kulturelle Freiheit nach Möglichkeit zu bewahren.
Abb.3


Ursprünglich gehört lstrien zum Siedlungsgebiet Illyrischer Stämme, die die Ostküste des Adriatischen Meeres und das Innere der Balkanhalbinsel bewohnen. Im 5. und 6. Jahrhundert vuZ dringen keltische Stämme, aus dem Donautal und aus Norditalien kommend, auf die Balkanhalbinsel vor, wo sich illyrisch-keltische Volksstämme bilden, die sich in größeren Stammesbündnissen vereinigen. Die griechischen Kolonien an der Küste und auf den vorgelagerten Inseln werden von den Illyrern nach und nach erobert. Mit schnellen und wendigen Schiffen überfallen sie Handelsschiffe und fügen dem Seehandel zwischen Italien und Griechenland großen Schaden zu (Abb.3/4: Opferhandlung, Detail der Situla von Vace; um 500 vuZ).
Nach der Unterwerfung der keltischen Stämme im cisalpinen Gallien dehnen die Römer Ihr Reich bis an die Alpen aus; 181 vuZ gründen sie Aquilea als Verteidigungskolonie gegen illyrisch-keltische Stämme und machen es zum Ausgangspunkt für die territoriale und ökonomische Expansion des römischen Reiches.

In diesem Zeitraum werden die "Histren" (illyrisch-keltische Bewohner Istriens) vor allem im Zusammenhang mit der Piraterie erwähnt. Titus Livius berichtet vom Feldzug des Konsuls Aulus Manlius Vulso gegen die Histren (178 und 177 vuZ) und beschreibt ihre Gesellschaftsordnung und Lebensform.

Die zahlreichen Stämme der illyrisch-keltischen Histren leben, entweder in einer großen, häufig aber in einer Gruppe von mehreren befestigten Ringwallsiedlungen, an der Küste und im Landesinneren der Istrischen Halbinsel. Für Ackerbau und Viehzucht besitzen sie bereits arrondierte Flächen, für die Jagd das ungeteilte Waldland. An der Küste betreiben sie zusätzlich Fischfang und Seeräuberei. Mit den Nachbarn wird reger Handel getrieben. Die einzelnen Stammessiedlungen schließen sich zu größeren Gemeinden (Civitates) mit einem "Princeps" (Häuptling zusammen; die Versammlung aller "Principes" wählt aus ihrer Mitte ein Oberhaupt. Alle Fragen von übergeordnetem Interesse werden vom Rat der Principes entschieden.

Mit der Eroberung der befestigten Ringwallsiedlung Nesactium durch die Römer (177 vuZ) wird die eigenstaatliche Entwicklung der Histren unterbrochen und ihr Territorium wird nach und nach in das römische Zivilisationssystem eingegliedert. Nur im Landesinneren der Istrischen Halbinsel, im bergigen und bewaldeten Gelände, weit abgelegen von römischen Stützpunkten und Straßen, vollzog sich die Romanisierung viel langsamer. Die illyrisch-keltische Bevölkerung verlängerte hier Ihre ureigenste Lebensweise in befestigten Ringwallsiedlungen; Sinn und Ordnung der überkommenen Gesellschaftsordnung werden erst langsam verändert. In diesen Bereichen wurde, während der sechs Jahrhunderte dauernden römischen Herrschaft in Istrien der Romanisierungsprozeß nie vollständig und bis zum Ende durchgeführt (abb.4).

Abb.4

Vor allem das fruchtbare Küstengebiet und die Tallagen im Inneren werden zu römischem Staatseigentum erklärt und zu Latifundien der römischen Familien mit Sklavenarbeitern; den besiegten Histren werden außerdem große Steuerlasten auferlegt. Das führte zur Verarmung der eingesessenen Bevölkerung; viele Ringwallsiedlungen, die den Krieg überstanden hatten, werden verlassen und dem Verfall preisgegeben. Nach dem Untergang Westroms fällt Istrien zuerst an die Ostgoten (493-539 nuZ) wird aber 539 nuZ von Ostrom (Byzanz) rückerobert (Abb.5).

Abb.5

In der Zeit der Völkerwanderung flüchten zahlreiche romanisierte Volksgruppen aus Pannonien und Noricum nach Süden und lassen sich in Istrien nieder; ab dem 6. Jahrhundert kommt es immer wieder zu Überfällen durch die vereinigten Slawen, Awaren und Langobarden. 770 nuZ wird Istrien Teil des friulanischen Herzogtums der Langobarden und nach der Eroberung des langobardischen Königreiches (774 nuZ) durch die Franken (Karl der Große) in die feudale Organisation des Frankenreiches eingegliedert. Während der Frankenherrschaft werden im Ostteil Istriens slawische Bauern (Kroaten), die aus den im Osten angrenzenden Gebieten zuwandern, angesiedelt. Bei der Verteidigung gegen die Sarazenen im 9. und 10. Jahrhundert wird die Republik Venedig zu Hilfe gerufen, mit dem Erfolg, daß Istrien an Venedig fällt. Nur die Grafschaft Mitterburg Im Landesinneren wird laut Erbfolgevertrag (1364 nuZ) von den Habsburgern übernommen.
Abb.6

Bis zum Untergang der Republik Venedig (1797 nuZ) bleibt diese Aufteilung zwischen Venedig und Österreich bestehen. Unter Napoleon wird Istrien von 1806 bis 1815 Teil der illyrischen Provinz und kommt anschließend bis 1918 unter österreichische Herrschaft. Zwischen den Weltkriegen von Italien okkupiert, wird es 1947 im Friedensvertrag von Paris Jugoslawien (Slowenien und Kroatien) zugesprochen. Neben den zahlreichen bedeutenden.Bauten, die für diese wechselvolle Geschichte Zeugnis ablegen ***, gibt es nach wie vor Rückzugsgebiete in denen die Kulturlandschaft ein zeitloses Antlitz bewahrt hat.

***) z.B.: das römische Amphitheater in Pula (2), die byzantinische Euphrasius Basilika in Porec, die zahlreichen Frankenburgen, die romanischen und gotischen Kirchen im Landesinneren (Sv. Trojica in Hrastovlje, Sv. Maria in Beram ), die venezianischen Paläste der Küstenstädte (Piran, Koper) u.v.a (Abb.4/5/6; 3/4/5/6/7/8/9).

Parallel zur Ostküste von Istrien verläuft von Rijeka bis Plomin ein Höhenzug (Ucka), dessen rauhe Südostflanke steil aus der Kvarnerbucht bis zu seiner höchsten Erhebung 1396 m üdM) aufsteigt, von der bei klarem Wetter der Blick über ganz Istrien hinweg zur Westküste reicht (32/34/36).

In diesem auch heute noch unwegsamen und kaum erschlossenen Gelände finden sich in Einzelgehöften und kleineren Weilern Hausformen, die durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viele sind verlassen und nur das steinerne Mauergeviert mit hochgezogenen Giebelmauern und leeren Fensterhöhlen ist geblieben, andere in Einzellage dienen als Hirtenunterkunft bei der sommerlichen Benutzung der Hochweiden.

Einige sind aber noch ständig bewohnt und bieten Ihren Bewohnern auch heute noch die Möglichkeit sich mit bescheidenen Mitteln in eine überschaubare Welt zurückzuziehen. Hier sind die anonymen Einflüsse und Abhängigkeiten von außen auf ein Minimum reduziert, Konsumzwang und Touristenlärm sind fern, der Lebensrythmus wird in der Hauptsache vom Jahreszeitenwechsel und von der unmittelbaren Nachbarschaft bestimmt (16 bis 28).

PLASICI - OSICI 27

Von der alten Küstenstrasse zwischen Moscenice und Brsec erreicht man über einen schmalen steinigen Pfad - flankiert von endlosen Steinmauern - einen der vielen Vorberge an der Ostküste von dem man die Kvarner-Bucht bis zu den Inseln Cres und Krk überschaut. Kurz vor der Hügelkuppe drängen sich in einer Mulde, die sich leicht abfallend nach Westen hin öffnet, einige Strohdächer zu einem kleinen Gehöft zusammen. Der Hang ist unter geschickter Ausnutzung des stellenweise zutagetretenden Kalkgesteins durch steinerne Stützmauern (Trockermauerwerk) terrassiert. Ein schmales Gatter in der steinernen Umfriedung bildet den einzigen Zugang (Abb.7).
Abb.7


Zögernd erwidert der Hausherr die Begrüssung und beantwortet wortkarg die neugierigen Fragen (18).

Das Anwesen besteht aus einigen kleinen Häusern von ähnlicher Bauweise die sich vor allem in der Größe unterscheiden. Am größten ist das Wohnhaus (Abb.8; 17/19) mit offener Feuerstelle, Kamin und Steinterrasse mit Weinlaube vor der Eingangstüre. Daneben ein Schafstall, mit Heuschober im Dachraum, ein Geräteschuppen mit Heuschober, ein in die Erde versetzter Weinkeller, ein kleiner Hühnerstall und die Hundehütte, die mit der Zisterne eine Wirtschaftseinheit bilden**** (Abb.7).

Abb.8


****) An Nutztieren besitzt er 12 bis 13 Schafe, die pro Jahr 9 bis 10 Junge werfen (Fleisch, Schafkäse und Schafwolle), dazu noch 15 bis 16 Hühner und einen Hirtenhund. Auf 2000 m2 terrassierter Nutzfläche gibt es einen großen Gemüsegarten neben der Zisterne, einen Olivenhain (Ollvenöl), Feigenbäume (die Feigen werden als Wintervorrat getrocknet) und hauptsächlich Weingärten. Nach Deckung des Eigenbedarfes bleiben ihm 10 bis 12 hl Wein (Malvasia, Teran, Merlot und Bardolino) für den Verkauf. Aus Feigen (23), Kirschen und Maulbeeren brennt er seinen Schnaps.

Die verwendeten Baumaterialien sind Steine, Holz und Erde, die aus der unmittelbaren Umgebung entnommen wurden und Stroh. Die Konstruktion besteht aus einem steinernen Rechteckgeviert (als Rückwand dient der gewachsene Fels oder eine der Stützmauern) mit einer oder zwei hochgezogenen Giebelmauern an den Schmalseiten. Das bis zu 1 m starke Trockenmauerwerk ist an den Ecken und im Bereich der Öffnungen durch große, behauene Steine verstärkt. Ein Scherenstuhl mit Firstpfette aus den krummwüchsigen Hölzern der Region lehnt sich ein- oder beidseitig gegen die Giebelmauer und trägt die Dachhaut aus Stroh.

Eine optimale Geländeanpassung, die gegenseitige Zuordnung, die natürlichen Materialien, der bescheidene Maßstab und eine klare Geometrie (Proportion) der einzelnen Gebäude ergeben eine Welt im kleinen - ein Modell für das Miteinander von Mensch und Natur - und fügen sich nahtlos in den größeren regionalen Zusammenhang ein.

QUELLEN

Archäologisches Museum Istrien-Pula:
Stefan Mlakar: "Die Römer in Istrien"; Pula 1966
Branco Marusic: "Istrien im Frühmittelalter"; Pula 1969

Frank Rother: "Jugoslawien"; DuMont, Köln 1976

Werner DeHaas und Fredy Knorr: "Was lebt im Meer an Europas Küsten"; Franckh'sche Verlagshandlung W. Keller & Co, Stuttgart 1965

Seminar In Plasici - Osici / Jugoslawien / Istrien September 1972:
Josef Klose / Claudia Dort / Karl Dusek / Gabriele Ebner / Martin Kiesel / Rudolf Kowatsch / Heinz Lang / Herbert Liska / Erich Reinberger / Alfred Sturm

Fotos: H. Neuwirth


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Veröffentlicht  im Sterz Nr.12-2/80