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Vernakulare Architektur in der Steiermark

Problemstellung und Stand der Forschung
Konstuktionsprinzipien - Gestaltungskriterien - Typologien

Der Anlass für das vorliegende Projekt ist in der Tatsache begründet, dass in den letzten Jahren durch den Strukturwandel des ländlichen Raumes typische - über Jahrhunderte gewachsene Baugestalten ohne ausreichende Dokumentation weitgehend verändert oder zur Gänze abgebrochen werden und damit wertvolles historisches Quellenmaterial verloren geht. So konnten um 1970 im Raum Semriach / Windhof noch ca. 15 Höfe mit kunstvollen Sgrafittofassaden (Datierungen in den Fassaden um 1600) lokalisiert werden. Sie sind heute verschwunden. Im Raum Birkfeld / Pöllau konnten ebenfalls um 1970 noch ca. 10 Hakenhöfe (Holzblockbau mit Strohdeckung) besucht werden, von denen heute keiner mehr existiert.

Das sich bisher die Architektenausbildung fast ausschließlich mit der Stilgeschichte und Bauformenlehre der Feudalarchitektur befasst, andererseits aber durch den Anspruch der Architekten, alle Lebensbereiche zu bearbeiten sich die Aufgabenstellungen des Berufes geändert haben, müssen in der Grundlagenforschung die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden.

Durch eine bislang – wenn überhaupt – mit sehr unterschiedlichen Qualität und Genauigkeit betriebenen Grundlagenforschung wird die Integration der anonymen Kulturschöpfungen in die wissenschaftliche Systematik der Baukunst erschwert oder unmöglich gemacht. So werden fast in der gesamten Literatur dieses Themenbereiches nach wie vor Werke als Grundlage herangezogen, die um die Jahrhundertwende oder kurz danach entstanden sind.
Die Authentizität dieser „Aufnahmen“ muss natürlich vor den Hintergrund der Entwicklung der Mess- und Aufnahmetechnik heute relativiert werden.

Als zweites hat die romantische Verklärung der „Bäuerlichen Tradition“ lange Zeit fiktive Sollzustände erfasst und die wissenschaftliche Dokumentation des Istzustandes vernachlässigt. Die wissenschaftliche Systematik muss aber bei der Feldforschung und bei der Bauaufnahme beginnen um entsprechende Resultate zu bringen. Text- und Bildbände erfassen zumeist die Idylle – die unwahre Fotoästhetik wird zum Selbstzweck. Selten sind Publikationen mit historisch-kritischem Ausgangspunkt bei denen Text, Bild und Plandarstellung eine systematische Einheit bilden.
Die meisten Bauaufnahmen im Rahmen der Volkskunde sind ohne eine entsprechende technische Detailgenauigkeit erfolgt, hier kann und muss langfristig eine interdisziplinäre Zusammenarbeit angestrebt werden. Als Beispiel wird auf die Buchreihe „Die Bauernhäuser der Schweiz“ und die französische Reihe „L árchitecture rurale francaise“ verwiesen.

Als Voraussetzung für eine ebenso gründliche wie gewissenhafte Aufarbeitung der steirischen Hauslandschaften müssen exemplarische Beispiele mit allen technischen und stilistischen Details erfasst werden – bevor sie zu Wochenendhäusern oder zu Museumsobjekten reduziert sind – um vergleichbares Material zu erzielen. Vor allem muss hier noch einmal besonders auf die Vielfalt der Erscheinungsformen hingewiesen werden, die bisher meist einer Typologisierung auf der Grundlage unzureichender Aufnahmen zum Opfer gefallen sind.


Konzept und Methodik
Basismaterial für die wissenschaftliche Aufarbeitung sind die an der Technischen Universität Graz zwischen 1972 und 1992 von Holger Neuwirth im Rahmen der Lehrveranstaltung „Bauaufnahmen“ entstandenen Dokumentationen, die etwa 160 Einzel- und Gruppenobjekte (Hofanlagen, Bauernhäuser, Scheunen, Ställe, Mühlen, Backöfen, Heuharpfen, Almhütten u.a.m.) in der Steiermark behandeln.
Die Dokumentationen beinhalten detailierte Plandarstellungen der Bauwerke, die eine Analyse unter Berücksichtigung der Chronologie der Entstehung der Typologien, Konstruktionsprinzipien, Gestaltungskriterien und verwenderter Materialien zulassen, ergänzt durch Bildmaterial und Beschreibungen. Viele der Objekte sind inzwischen verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.

Um das vorhandene Material zugänglich und eine interdisziplinäre Forschung möglich zu machen, ist als erster Schritt eine digitale Aufarbeitung sinnvoll und notwendig. Diese digitale Dokumentation der Bauaufnahmen soll durch Karten und Katasterauszüge ergänzt werden, um die genaue Lokalisierung der Objekte sicherzustellen. Zusätzlich wird eine aktualisierende Bestandsaufnahme der Objekte erstellt, um die Entwicklung in den unterschiedlichen Regionen zu analysieren.
Um das digitale Material öffentlich verfügbar zu machen, wird eine Homepage eingerichtet, auf der das Material kontinuierlich erweitert wird und die in der Folge als Plattform eine fachübergreifende Auseinandersetzung mit dem Themenbereich ermöglicht.


Projektziele
Durch dieses Vorhaben soll ein bisher vollkommen unzulänglich erfasster Teilbereich der steirischen Baugeschichte schwerpunktmäßig dokumentiert werden. Die Aufarbeitung des Archivmaterials soll für eine bewusste Auseinandersetzung mit dem historischen Bauerbe dienen. Damit soll auch eine wertvolle Grundlage für die Erneuerung des Siedlungsgebietes geschaffen werden. Insofern soll die Dokumentation dazu beitragen, dass traditionelle Gebäude nicht gedankenlos kopiert werden. Es soll gezeigt werden, wie die räumliche Organisation aus den Lebensabläufen der Bewohner, die Materialauswahl aus den in der Region verfügbaren Baustoffen, die konstruktive Gestaltung aus dem Können der Baumeister und Handwerker entwickelt wurden. Dieses vertiefte Verständnis der Bautradition soll zu neuen eigenständigen Lösungen herausfordern. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wird angestrebt und durch die kontinuierliche Veröffenlichung auf der Homepage gefördert. Die Gesamtdarstellung des Forschungsprojektes in einer für eine Publikation bzw. für Ausstellungen geeigneten Form soll bei der Digitalisierung der Unterlagen berücksichtigt werden.

Holger Neuwirth

 

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