PAGURI
UND ARCHITECTONICIDAE
Holger Neuwirth |
PAGURI UND ARCHITECTONICIDAE Da ich lange im falschen Glauben befangen war, daß Müßiggang verwerflich und aller Laster Anfang sei, habe ich nach und nach die Gewohnheit angenommen, bei jeder Gelegenheit um mich einen Schutzmantel aus sinnvollen Tätigkeiten auszubreiten. So ergab es sich, daß ich während meiner Urlaube an der Adria, um das Untergehen der Sonne - wenn die Meeresoberfläche ganz glatt und ruhig wird und die Tagesgeräusche vergehen - zu genießen, mit der Angelrute meinen Platz an der felsigen Küste aufsuchte. Dazu mußte ich bei Niedrigwasser in der nahen Bucht den erforderlichen Köder sammeln, womit auch der Nachmittag sein Alibi bekam. Garnelen, die einen sehr guten Köder für die Angel abgeben, sind aber sehr flink und erfordern, neben Netz und Kübel, zu große Aufmerksamkeit. Am bequemsten ist das Einsammeln der zahlreichen Schneckengehäuse, die im seichten Uferwasser an den Steinen befestigt erscheinen und bei Annäherung scheinbar zufällig in die Tiefe kollern. Bei genauerer Beobachtung verraten ein Fühlerpaar, haarige Beinchen und Scheren den Einsiedlerkrebs. Irgendwann in seiner EntwIcklungsgeschIchte
muß er die Sicherheit und Bequemlichkeit einer Behausung dem unsteten
Wanderleben vorgezogen haben. Seine Sicherheit hat er damit zwar vergrößert,
aber seine Möglichkeiten sind verkümmert, sein Freiraum ist eingeschränkt.
Sein Rückwärtiges ist ungegliedert und weichhäutig geworden.
Die Laufbeinpaare sind am Hinterteil zu Ankerhaken, mit denen er sich in
seiner Behausung festklammert, rückgebildet. Er wählt sich eines
der zahlreichen leeren, unterschiedlich geformten Schneckenhäuser*
(Abb.1/2) aus, in das er sich verkriecht und in dem er mit seinen Scheren
(je nach Art** ist die linke oder die rechte Schere stärker entwickelt)
auf Beute lauert.
ISTRIEN Die Halbinsel von Istrien - im Norden Jugoslawiens - befindet sich am nordwestlichen Ausläufer des Dinarischen Gebirgsblocks, der das mediterrane Küstenland im Westen vom kontinentalen Tiefland ( Save- und Donaubecken ) Im Osten trennt. Er besteht aus Kalken der Jura- und Kreidezeit. Immergrüne Wälder und an der Küste auch Macchien bilden die Vegetation (Seestrandkiefer, Zypresse, Steineiche, Wacholder u.v.a.), die aber durch Raubbau gebietsweise verdrängt wurde und in der Folge durch eine fortschreitende Verkarstung ihrer natürlichen Grundlagen (Wasser und Humus) beraubt wurde. Die immergrünen Wälder sind zuerst für die Schiffe Roms, dann für die Paläste und Schiffe Venedigs abgeholzt worden; die anschließende Beweidung durch Schafe und Ziegen hat die Verkarstung noch beschleunigt (30). Wasserarmut und ein karger Boden sind die Folgen; daher auch die Bezeichnung "Karst" (steiniger Boden), die sich von der gleichnamigen Landschaft In der Umgebung von Triest ableitet. Der spärliche Humus wird mittels Steinmauern gegen die "Bora" (ein böiger und sehr stürmischer Fallwind) verteidigt; die Niederschläge der kalten Jahreszeit werden in Zisternen für die trockene und heiße Sommerzeit gespeichert (25).
GESCHICHTE Die unwegsamen Höhengebiete des Dinarischen
Gebirgsblocks waren im Lauf der Geschichte immer wieder kulturelle und
zivilisatorische Rückzugsgebiete, die man trotz der mühevollen
und ärmlichen Lebensbedingungen aufsuchte um sich die geistige und
kulturelle Freiheit nach Möglichkeit zu bewahren.
In diesem Zeitraum werden die "Histren" (illyrisch-keltische Bewohner Istriens) vor allem im Zusammenhang mit der Piraterie erwähnt. Titus Livius berichtet vom Feldzug des Konsuls Aulus Manlius Vulso gegen die Histren (178 und 177 vuZ) und beschreibt ihre Gesellschaftsordnung und Lebensform. Die zahlreichen Stämme der illyrisch-keltischen Histren leben, entweder in einer großen, häufig aber in einer Gruppe von mehreren befestigten Ringwallsiedlungen, an der Küste und im Landesinneren der Istrischen Halbinsel. Für Ackerbau und Viehzucht besitzen sie bereits arrondierte Flächen, für die Jagd das ungeteilte Waldland. An der Küste betreiben sie zusätzlich Fischfang und Seeräuberei. Mit den Nachbarn wird reger Handel getrieben. Die einzelnen Stammessiedlungen schließen sich zu größeren Gemeinden (Civitates) mit einem "Princeps" (Häuptling zusammen; die Versammlung aller "Principes" wählt aus ihrer Mitte ein Oberhaupt. Alle Fragen von übergeordnetem Interesse werden vom Rat der Principes entschieden. Mit der Eroberung der befestigten Ringwallsiedlung
Nesactium durch die Römer (177 vuZ) wird die eigenstaatliche Entwicklung
der Histren unterbrochen und ihr Territorium wird nach und nach in das
römische Zivilisationssystem eingegliedert. Nur im Landesinneren der
Istrischen Halbinsel, im bergigen und bewaldeten Gelände, weit abgelegen
von römischen Stützpunkten und Straßen, vollzog sich die
Romanisierung viel langsamer. Die illyrisch-keltische Bevölkerung
verlängerte hier Ihre ureigenste Lebensweise in befestigten Ringwallsiedlungen;
Sinn und Ordnung der überkommenen Gesellschaftsordnung werden erst
langsam verändert. In diesen Bereichen wurde, während der sechs
Jahrhunderte dauernden römischen Herrschaft in Istrien der Romanisierungsprozeß
nie vollständig und bis zum Ende durchgeführt (abb.4).
Vor allem das fruchtbare Küstengebiet
und die Tallagen im Inneren werden zu römischem Staatseigentum erklärt
und zu Latifundien der römischen Familien mit Sklavenarbeitern; den
besiegten Histren werden außerdem große Steuerlasten auferlegt.
Das führte zur Verarmung der eingesessenen Bevölkerung; viele
Ringwallsiedlungen, die den Krieg überstanden hatten, werden verlassen
und dem Verfall preisgegeben. Nach dem Untergang Westroms fällt Istrien
zuerst an die Ostgoten (493-539 nuZ) wird aber 539 nuZ von Ostrom (Byzanz)
rückerobert (Abb.5).
***) z.B.: das römische Amphitheater in Pula (2), die byzantinische Euphrasius Basilika in Porec, die zahlreichen Frankenburgen, die romanischen und gotischen Kirchen im Landesinneren (Sv. Trojica in Hrastovlje, Sv. Maria in Beram ), die venezianischen Paläste der Küstenstädte (Piran, Koper) u.v.a (Abb.4/5/6; 3/4/5/6/7/8/9). Parallel zur Ostküste von Istrien verläuft von Rijeka bis Plomin ein Höhenzug (Ucka), dessen rauhe Südostflanke steil aus der Kvarnerbucht bis zu seiner höchsten Erhebung 1396 m üdM) aufsteigt, von der bei klarem Wetter der Blick über ganz Istrien hinweg zur Westküste reicht (32/34/36). In diesem auch heute noch unwegsamen und kaum erschlossenen Gelände finden sich in Einzelgehöften und kleineren Weilern Hausformen, die durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viele sind verlassen und nur das steinerne Mauergeviert mit hochgezogenen Giebelmauern und leeren Fensterhöhlen ist geblieben, andere in Einzellage dienen als Hirtenunterkunft bei der sommerlichen Benutzung der Hochweiden. Einige sind aber noch ständig bewohnt und bieten Ihren Bewohnern auch heute noch die Möglichkeit sich mit bescheidenen Mitteln in eine überschaubare Welt zurückzuziehen. Hier sind die anonymen Einflüsse und Abhängigkeiten von außen auf ein Minimum reduziert, Konsumzwang und Touristenlärm sind fern, der Lebensrythmus wird in der Hauptsache vom Jahreszeitenwechsel und von der unmittelbaren Nachbarschaft bestimmt (16 bis 28).
PLASICI - OSICI 27 Von der alten Küstenstrasse zwischen
Moscenice und Brsec erreicht man über einen schmalen steinigen Pfad
- flankiert von endlosen Steinmauern - einen der vielen Vorberge an der
Ostküste von dem man die Kvarner-Bucht bis zu den Inseln Cres und
Krk überschaut. Kurz vor der Hügelkuppe drängen sich in
einer Mulde, die sich leicht abfallend nach Westen hin öffnet, einige
Strohdächer zu einem kleinen Gehöft zusammen. Der Hang ist unter
geschickter Ausnutzung des stellenweise zutagetretenden Kalkgesteins durch
steinerne Stützmauern (Trockermauerwerk) terrassiert. Ein schmales
Gatter in der steinernen Umfriedung bildet den einzigen Zugang (Abb.7).
Das Anwesen besteht aus einigen kleinen
Häusern von ähnlicher Bauweise die sich vor allem in der Größe
unterscheiden. Am größten ist das Wohnhaus (Abb.8; 17/19) mit
offener Feuerstelle, Kamin und Steinterrasse mit Weinlaube vor der Eingangstüre.
Daneben ein Schafstall, mit Heuschober im Dachraum, ein Geräteschuppen
mit Heuschober, ein in die Erde versetzter Weinkeller, ein kleiner Hühnerstall
und die Hundehütte, die mit der Zisterne eine Wirtschaftseinheit bilden****
(Abb.7).
Die verwendeten Baumaterialien sind Steine, Holz und Erde, die aus der unmittelbaren Umgebung entnommen wurden und Stroh. Die Konstruktion besteht aus einem steinernen Rechteckgeviert (als Rückwand dient der gewachsene Fels oder eine der Stützmauern) mit einer oder zwei hochgezogenen Giebelmauern an den Schmalseiten. Das bis zu 1 m starke Trockenmauerwerk ist an den Ecken und im Bereich der Öffnungen durch große, behauene Steine verstärkt. Ein Scherenstuhl mit Firstpfette aus den krummwüchsigen Hölzern der Region lehnt sich ein- oder beidseitig gegen die Giebelmauer und trägt die Dachhaut aus Stroh. Eine optimale Geländeanpassung, die gegenseitige Zuordnung, die natürlichen Materialien, der bescheidene Maßstab und eine klare Geometrie (Proportion) der einzelnen Gebäude ergeben eine Welt im kleinen - ein Modell für das Miteinander von Mensch und Natur - und fügen sich nahtlos in den größeren regionalen Zusammenhang ein.
QUELLEN Archäologisches Museum Istrien-Pula:
Frank Rother: "Jugoslawien"; DuMont, Köln 1976 Werner DeHaas und Fredy Knorr: "Was lebt im Meer an Europas Küsten"; Franckh'sche Verlagshandlung W. Keller & Co, Stuttgart 1965 Seminar In Plasici - Osici / Jugoslawien
/ Istrien September 1972:
Fotos: H. Neuwirth |
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Veröffentlicht im Sterz Nr.12-2/80 |